Camy, Kira und Nyx auf Expediton

Die Entdeckungsreise beginnt

 

Es ist ein schöner Morgen im Sagun-Wald.
Der Nebel liegt noch tief über den Wiesen, während sich das erste Licht der Sonne zaghaft durch die Baumwipfel tastet. Die letzten Sterne funkeln noch blass am Himmel ein flüchtiger Abschied der Nacht.

Camy und Kira haben heute einen großen Tag vor sich.
Sie planen eine Entdeckungsreise. Ihr Lehrmeister hatte ihnen gesagt:
„Ihr müsst die Natur und die Tiere respektieren und mit Geduld studieren dann werdet ihr die Magie hinter den Dingen verstehen. Und irgendwann beginnt ihr, auch euch selbst zu begreifen.“

Und so wollen sie heute losziehen, um zu lernen und zu verstehen.

Camy ist bereit.
Er war schon zwei Stunden vorher wach, hat alles durchgecheckt und sicherheitshalber noch ein zweites Mal. Nichts darf fehlen. Jetzt steht er vor Kiras Hütte und wartet ungeduldig darauf, dass sie wach wird.

 

Er ist zu früh. Viel zu früh.
Aber er freut sich so sehr auf diese Expedition, dass er es kaum aushält. Nach ein paar Minuten wird seine Geduld bröckelig wie trockenes Moos. Also sammelt er ein paar Kieselsteine und wirft sie gegen das Fenster. Erst ein oder zwei keine Reaktion. Dann noch zwei, drei mehr.

Ein tiefes Knurren ertönt von drinnen.

Wenige Sekunden später öffnet sich das Fenster und Nyx streckt den Kopf heraus. Als er Camy sieht, leuchten seine Augen auf, und noch bevor jemand reagieren kann, springt er mit einem Satz aus dem Fenster und landet direkt vor Camy.
Im selben Moment ruft Kira hinter ihm:

„He! Nyx! Ich bin noch nicht mal richtig wach, und du tobst hier rum wie ein wilder Sandsturm!“

Nyx hat sie offenbar beim Absprung mit den Hinterbeinen aus dem Weg geschubst. Camy versucht, den schwarzen Wirbelsturm zu beruhigen und ruft:

„Das tut mir leid, Kira! Ich wollte euch nicht so aufscheuchen ich wollte nur schauen, ob ihr schon wach seid.“

Kira lacht.
„Ja, wir sind jetzt wach. Dank dir.“

Camy grinst breit:
„Dann können wir ja los!“

Kira (noch halb im Halbschlaf):
„Wir sind wach aber noch nicht fertig und bereit, Camy.“

Sie rappelt sich auf und beginnt, sich fertigzumachen.

Kira packt ein paar Dinge in ihren Beutel: ein kleines Notizbuch, ein paar Juma-Früchte und ein paar nützliche Kleinigkeiten. Dann wirft sie sich ihren Umhang über.

Camy und Nyx stehen bereits ungeduldig an der Tür. Kira schaut die beiden noch etwas verschlafen an:

„Ja, ich komm ja schon...“

Camy sagt begeistert:
„Perfekt! Ich freu mich richtig auf die Expedition!“

Nyx gibt einen Laut von sich, der so viel heißt wie: Na endlich!

Kira:
„Wo kommt nur eure ganze Energie her? Ich muss erstmal wach werden dann kommen die Abenteuer dran.“

Camy:
„Ich hab immer Energie, wenn’s was Neues zu entdecken gibt!“

Nyx schnaubt zustimmend, und die drei ziehen los...

Die Expedition

 

Sie verlassen die bewohnten Zonen und tauchen ein in die weite, wilde Natur von Thariis.

Die Sagun-Wälder erstrecken sich über ein gewaltiges Gebiet dichte, lebendige Landschaften, durchzogen von sanften Lichtungen, versteckten Flüssen, weichen Mooswegen und gewaltigen Pilzwäldern. Die Farben um sie herum wirken wie ein Pastellgemälde, das von der Natur selbst gemalt wurde: zarte Lilatöne, sanftes Blau, schimmerndes Weiß und vereinzelt leuchtendes Pink, das aus den Kronen der Akimea-Bäume hervorblüht.

Camy läuft voraus, mit leuchtenden Augen. Kira folgt ihm, den Blick aufmerksam, ein Notizbuch in den Pfoten. Immer wieder bleibt sie stehen, beugt sich zu einer Pflanze oder einem Pilz hinunter, macht sich kleine Skizzen, notiert Beobachtungen. Auch Nyx bleibt immer wieder stehen mal um zu schnuppern, mal um Insekten mit den Augen zu verfolgen, mal einfach nur, um kurz innezuhalten.

Sie folgen einem Fluss, dessen Wasser kristallklar zwischen Steinen und Moos dahinplätschert. Das leise Rauschen begleitet sie wie eine sanfte Melodie.

„Schau mal, wie glatt die Steine hier sind“, sagt Kira, als sie sich am Ufer niederkniet.
„Das Wasser hat sie rund geschliffen über Jahre, vielleicht Jahrhunderte.“

Camy nickt.
„Es ist wie Zeit, die man anfassen kann.“

Sie wandern weiter, flussaufwärts das Terrain wird felsiger, die Vegetation dichter. Schmetterlinge und kleine Zaphari-Insekten tanzen durch die Luft, Blüten leuchten in verschiedenen Farben, manche nur schwach, andere beinahe glühend. An den Hängen wachsen Rankenpflanzen, deren Blätter im Licht glänzen.

Dann erreichen sie den Rand einer Steilwand.

Vor ihnen stürzt der Fluss in einem spektakulären Wasserfall in die Tiefe das Wasser rauscht in feinen Schleiern hinab, bricht in hunderte schimmernde Tropfen auf, und genau in diesem Moment geschieht es:

Das Licht verändert sich.

Ein violetter Schein durchdringt die feuchte Luft, wird gebrochen und gefiltert und plötzlich tanzen Farben durch die Tropfen, wie leuchtende Nebelfedern in der Luft. Ganze Bögen von Licht flackern kurz auf, verschwinden, erscheinen an anderer Stelle wieder. Die Welt scheint für einen Moment zu atmen in Farben.

Kira bleibt stehen und flüstert:
„Das sieht aus wie ein Traum… Wie kann sowas entstehen? Ist das… Magie?“

Camy lächelt sanft, wie jemand, der etwas wirklich liebt.
„Fast. Aber es ist eigentlich… nur Licht. Und Wasser. Und der richtige Moment.“

Er tritt näher an den Rand, zeigt mit der Pfote auf den Winkel der Sonne, der gerade schräg über die Felsen scheint.

„Die Sonne von Thariis hat ein besonderes Licht wegen ihrer Farbe und der Zusammensetzung unserer Atmosphäre. Wenn das Licht auf Wasser trifft wie hier auf die Nebeltröpfchen des Wasserfalls wird es gebrochen. Das heißt, es wird in viele Richtungen gestreut.“

Kira schaut gespannt zu.
Camy fährt fort:
„Und wenn die Tröpfchen klein genug sind, dann bricht das Licht in seine Farben auf. Wie bei einem Regenbogen.“

Kira:
„Also ist das, was wir sehen… die Farbe des Lichts selbst?“

Camy nickt.
„Genau. Und weil sich der Nebel bewegt, weil sich der Wind ständig verändert, ist auch das Licht ständig in Bewegung. So entsteht dieser… Tanz.“

Kira:
„Und das passiert jedes Mal, wenn alle Bedingungen stimmen?“
Camy:
„Ja. Aber es ist selten. Es muss alles genau passen: Luftfeuchtigkeit, Sonnenstand, Wind, Wasser...“

Nyx springt elegant auf einen der größeren Felsen, reckt sich dem Licht entgegen, als wollte er es greifen. Für einen Moment sieht sein Fell aus, als würde es glühen jede einzelne Haarspitze von einem anderen Farbton geküsst.

Kira flüstert:
„Ich glaube… ich verstehe jetzt, was unser Lehrmeister meinte.“

Camy sagt nichts.
Er lächelt nur und sieht zu, wie die Welt für einen kurzen Moment vollkommen ist.

Der Moment dehnte sich aus, als hielte der Wald selbst den Atem an.
Ein paar der kleinen Zaphari-Insekten summten vorbei, getragen von einem letzten Lichtschimmer, der durch die Äste tanzte.
Dann veränderte sich der Ton des Waldes ganz subtil das Licht kippte, die Schatten wurden tiefer.

Die drei warfen sich noch einen letzten Blick zu, dann setzten sie sich wieder in Bewegung.

Feder im Wind

 

Sie stehen am Rand einer breiten, felsigen Schlucht. Der Wald endet hier abrupt der Boden fällt steil ab, und dichter Nebel füllt die Tiefe wie ein flüssiger Schleier. Es gibt keine Brücke, keinen sichtbaren Pfad. Nur auf der anderen Seite: weiter Wald, flimmernd im Gegenlicht.

Kira runzelt die Stirn.
„Wie sollen wir da rüber? Flügel wachsen mir so schnell nicht.“

Camy schmunzelt und deutet zur Seite.
„Aber vielleicht wachsen sie hier irgendwo…“

Ein Stück weiter entdeckt Camy eine Gruppe riesiger Blätter lederartig, von zähem Gewebe durchzogen. Es sind Vintura-Pflanzen, deren Blätter sich bei starkem Wind schützend zusammenrollen. Er erkennt sofort die Struktur: leicht, biegsam, aber äußerst stabil fast wie die Flügel von Fledermäusen.

Camy:
„Wenn ich das richtig sehe… könnten diese Dinger uns tragen.“

Er beginnt, eines der größten Blätter vorsichtig zu lösen. Es ist so groß, dass er sich fast komplett darin einwickeln könnte. Mit geschickten Bewegungen bindet er einen stabilen Ast an den oberen Rand eine einfache, aber geniale Gleiterkonstruktion, inspiriert von alten Skizzen der Lera, die er einst in einem Buch gesehen hat.

Ein paar magische Worte flüstert er leise kein Zauberspruch, sondern ein Kanal für seine Druidenkraft, um das Blatt für einen Moment formstabiler zu machen.

Kira beobachtet skeptisch, wie Camy mit Moos, Zweigen und Konzentration arbeitet.
„Du willst… mit einem Blatt durch die Luft schweben?“

Camy grinst.
„Wenn du wüsstest, wie viele Dinge in der Natur fliegen, ohne Flügel zu haben… Sporen, Samen, selbst Spinnenfäden. Alles eine Frage von Auftrieb und Luftströmung.“

Kira:
„Du bist verrückt.“

Camy:
„Ein bisschen verrückt ist manchmal genau die richtige Balance zwischen Denken und Spüren.“

Sie lachen doch dann werden beide still.
„Was machen wir eigentlich mit Nyx?“, fragt Kira.

Sie drehen sich um.

Nyx sitzt hinter ihnen, hat die Unterhaltung offenbar aufmerksam verfolgt. Ohne ein Laut springt er auf einen dickeren Ast, der über die Schlucht ragt, und beginnt elegant und zielstrebig durch die Baumkronen zu klettern von Ast zu Ast, fast lautlos.
Wie ein Schatten.

Camy:
„Er kennt den Wald. Und der Wald kennt ihn.“

Der Flug

 

Sie wählen eine höher gelegene Stelle am Rand der Schlucht, wo der Wind günstig steht.
Camy hebt sein Blatt in den Wind. Es flattert erst, dann fängt es sich.
Kira folgt seinem Beispiel zögernd, aber bereit.

Camy:
„Vertrau dem Wind nicht deiner Angst.“

Dann läuft er los, springt und gleitet.

Kira zögert einen Moment, atmet tief durch und springt hinterher.

Die ersten Meter sind wackelig, der Wind zerrt an den Rändern. Doch dann, mit jeder Sekunde, werden ihre Bewegungen ruhiger. Die Gleiter tragen sie nicht perfekt, aber mit Leichtigkeit und Richtung.
Unter ihnen zieht der Nebel vorbei, die Welt verschwimmt in Licht und Dunst.

Für einen Moment ist alles still.
Nur Wind. Nur Weite.
Nur sie.

Langsam wird aus Unsicherheit Bewegung aus Bewegung Gleiten aus Gleiten Freiheit.

Camy hängt leicht nach vorne unter dem Querast seines improvisierten Blattgleiters, die Pfoten fest um die Griffseile aus Juma-Ranken gelegt. Der Wind zerrt sanft am Fell, das große, violettgrün schimmernde Blatt flattert leicht, aber hält.

Kira ist gleich neben ihm, ebenfalls gut gesichert. Ihre Augen sind geweitet nicht vor Angst, sondern vor Staunen.
„Das ist… unglaublich“, ruft sie gegen den Wind.
Camy lächelt, seine Stimme ist ruhig:
„Es fühlt sich an wie fliegen, oder?“

Ein kleiner Schwarm Zaphari tanzt neben ihnen durch die Luft die flauschigen Bestäuber summen schwerelos in Spiralen, als wollten sie die beiden begleiten.
Zwischen Blättern und Wind scheint die Zeit sich auszudehnen
ein Atemzug von Thariis selbst.

Dann kippt der Gleiter leicht, ein sanftes Absinken beginnt. Die andere Seite rückt näher, Moos, Felsen, weiche Erde.
Der Flug war nicht lang
und doch fühlte er sich an wie ein Traum.

Sie landen etwas holprig, aber sicher auf der anderen Seite. Kira rollt sich ab, Camy stolpert lachend hinterher.

Ein Rascheln in den Bäumen Nyx springt aus den Kronen, landet lautlos, und schaut die beiden an, als wolle er sagen:
„Na endlich.“

Kira lacht:
„Ich glaub, ich flieg nie wieder mit was anderem als einem Blatt.“

Camy:
„Ich auch nicht. Bis ich eins finde, das größer ist.“

Sie gehen ein paar Schritte weiter und erreichen eine Lichtung ruhig, weich, fast wie ein geheimer Garten. Der Boden ist von dickem Moos bedeckt. Zwischen den Akimea-Bäumen wachsen Berano-Büsche mit fast weißen, dreieckigen Blättern und kleinen, orangefarbenen Kelchblüten.

An einigen Zweigen hängen schon reife Beeren: tiefviolett, länglich, saftig und süß wie warmer Tau.

Sie setzen sich ins Moos, ruhen sich aus. Die Sonne fällt weich durch das Blätterdach, die Luft ist erfüllt vom Summen der Zaphari und dem Duft reifer Früchte.

Die Sprache der Zaphari

 

Die drei Gefährten sitzen auf der weichen Lichtung, das Moos unter ihnen warm vom Sonnenlicht. Die Akimea-Bäume ringsum werfen sanfte Schatten, die sich im leichten Wind kaum merklich bewegen. Zwischen den weißen Blättern der Berano-Büsche summt und schwirrt es die Luft ist lebendig.

Camy kaut entspannt auf einer der reifen, tiefvioletten Beeren. Der Geschmack ist süß, fast wie Honig mit einem Hauch wilder Blüte.
Kira sitzt ein Stück entfernt, das Notizbuch auf den Knien, den Blick auf die Umgebung gerichtet.

„Siehst du sie?“, fragt sie leise.

Camy folgt ihrem Blick und entdeckt sie.
Kleine, rundliche Insekten mit dichtem, weiß-grauem Pelz, die zwischen den Blüten tanzen. Auf dem Rücken schimmern feine, blau getigerte Streifen, ihre langen Fühler bewegen sich unablässig, als würden sie fühlen, wo das Leben pulsiert.

Kira:
„Das sind Zaphari. Sie sehen unscheinbar aus, oder? Aber ohne sie gäbe es diesen Wald nicht.“

Camy:
„Wirklich? Warum nicht?“

Kira legt das Notizbuch beiseite. Sie zeigt auf eine der Blüten, in der gerade eine Zaphari verschwindet.

„Die Pflanzen brauchen sie. Die Blüten der Berano-Büsche und so viele andere hier können sich nicht selbst bestäuben. Sie brauchen Besucher. Die Zaphari nehmen beim Nektarsammeln die Pollen auf und tragen sie weiter. Nur so kann später eine Frucht entstehen.“

Camy beugt sich vor, beobachtet, wie eine Zaphari vibrierend auf einer Blüte landet ihre Beine berühren sanft die Staubgefäße, kleine Pollenwolken lösen sich wie Glitzer in der Luft.

Kira:
„Es ist ein stilles Versprechen. Die Pflanze schenkt ihnen Nahrung und sie schenken ihr Zukunft.“

Camy:
„Also… wenn wir diese Beeren essen, verdanken wir sie eigentlich den Zaphari.“

Kira nickt:
„Und wenn es sie nicht mehr gäbe, wären auch die Pflanzen irgendwann fort. Und die Tiere, die von ihnen leben. Und wir.“

Ein einzelner Zaphari schwirrt langsam an ihnen vorbei und landet direkt vor Nyx’ Nase, der eingerollt im Moos döst. Er schlägt ein Auge auf, betrachtet das Insekt regungslos.

Dann blinzelt er langsam, fast respektvoll, und legt die Schnauze wieder auf die Pfoten.

Camy flüstert:
„Sie sind so klein… und doch tragen sie so viel.“

Kira:
„Manchmal sind es die kleinen Dinge, die die Welt zusammenhalten.“

Nyx dreht sich auf den Rücken, streckt alle Viere in die Luft und gibt ein tiefes, zufriedenes Brummen von sich, während ihm die Sonne auf den Bauch scheint.
Camy lacht leise:
„Er genießt das hier mehr als wir alle zusammen.“

Kira grinst:
„Vielleicht versteht er längst viel mehr, als wir denken.“

Sie ruhen sich noch einen Moment aus, genießen die Ruhe, das Summen und den Geschmack der frischen Früchte. Bevor sie aufbrechen, sammeln sie ein paar der reifen Berano-Beeren ein vorsichtig, nur so viel, wie sie brauchen. Kira notiert sich den Ort im Buch, und Nyx streckt sich gähnend und schnurrend. Dann brechen sie auf bereit für den nächsten Abschnitt ihrer Reise durch den lebendigen Wald von Thariis.

Tiefer in den Sagun-Wald

 

Nachdem sie noch ein paar der reifen Berano-Beeren eingepackt hatten sorgfältig in weiches Moos gewickelt, damit sie nicht zerdrückt werden machten sich die drei wieder auf den Weg.

Der Wald wurde dichter.
Die Lichtungen verschwanden, das Licht wurde gefiltert durch hohe Baumkronen und hängende Moosfäden, die sich zwischen den Ästen wie feine Schleier zogen. Der Boden war uneben, durchzogen von alten Wurzeln, kleinen Erdverwerfungen und moosbedeckten Felsen.

Nyx balancierte mit eleganter Leichtigkeit auf einem gefallenen Baumstamm, der sich über eine schmale Felsspalte spannte. Er bewegte sich, als würde er schweben ganz in seinem Element.

Camy und Kira hingegen folgten den Pfaden, die von den Tieren des Waldes genutzt wurden schmale Trampelpfade, die sich durch das Unterholz schlängelten, gerade breit genug für eine ruhige Wanderung.

Hier, in dieser Zone, begegneten sie häufig den Bewohnern des Sagun-Waldes, wenn auch meist nur flüchtig.

Manchmal raschelte es zwischen den Farnen und mit etwas Glück erspähten sie ein scheues Lunek, ein rehähnliches Tier mit samtigem, dunkelgrau-lavendelfarbenem Fell. Es wirkte fast wie ein Schatten zwischen den Bäumen.

Besonders die Jungtiere, mit ihren noch sichtbaren, myzelfleckigen Punkten auf dem Rücken, waren schwer zu entdecken außer, wenn sie kurz aufflitzten, weil ein Zweig knackte.

Zwischen Moospolstern und Wurzelwerk huschten immer wieder Zupps hindurch kleine, flinke Waldbewohner mit seidigem, hellbeigem Fell, langen Ohren und buschigen Schwänzen. Ihre Körper waren zart, mit dunklen Glasaugen und geschickten Pfoten, mit denen sie blitzschnell durch das Unterholz flitzten. Einige von ihnen hatten an den Ohren feine Fransen oder am Rücken leicht schimmernde Muster, die sie fast wie lebende Blätter wirken ließen. Kira lächelte jedes Mal, wenn sie eines sah diese kleinen Wesen waren für sie so etwas wie die heimlichen Hüter des Waldes.

Und weiter hinten, gut verborgen, hörten sie gelegentlich das tiefe, langsame Schnauben eines Mello groß, robust, mit breiten Schultern und einem schimmernden, dunkelbraunen Fell, das perfekt zum Wald passte. Wild lebende Mellos waren scheu und stolz, doch ihre Präsenz war spürbar oft verrieten nur abgebissene Blätter oder ein warmer, erdiger Geruch, dass sie kürzlich hier gewesen waren.

„Dieser Wald lebt“, murmelte Camy.
Kira nickte.
„Man muss nur hinschauen.“

Sie bewegten sich vorsichtig durch das Gelände, das jetzt steiler und unberechenbarer wurde. Wurzeln schlängelten sich wie Schlangen über den Boden, und zwischen den Bäumen öffneten sich plötzlich tiefe Felsspalten von alten Erdbewegungen geformt, mit teils senkrechten Kanten und rutschigem Untergrund.

Nyx tänzelte mit der typischen Eleganz eines Waldbewohners voran.
Doch dann… blieb er plötzlich stehen. Seine Ohren zuckten.

Ein Geräusch.
Ein tiefes, kehliges Schnauben, irgendwo aus der Nähe. Nicht aggressiv eher kraftlos.
Camy und Kira hielten inne, sahen sich an.
Kira:
„Was war das?“
Camy:
„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube… wir sollten es herausfinden.“

Die Rettung von Juno

 

Sie bewegten sich vorsichtig durch das unwegsame Gelände. Der Boden war holprig, durchzogen von Wurzeln und überwucherten Felsen. Es gab alte, umgestürzte Bäume, rutschige Hänge und tiefe Spalten, die sich wie Narben durch den Wald zogen.

In der Ferne hörten sie es wieder ein tiefes Schnauben, dumpf, erschöpft.
Nyx spitzte die Ohren. Camy und Kira sahen sich an.
„Was war das?“, flüsterte Kira.
Camy: „Ich weiß es nicht. Aber… es klang nicht gut.“

Sie folgten dem Geräusch vorsichtig, bedacht. Schließlich erreichten sie eine Stelle, an der der Boden plötzlich abfiel.
Eine große, vertiefte Senke, etwa drei Meter tief, mit steilen, teilweise felsigen Wänden. Am Rand wucherte eine dichte Schicht Meralum eine Pflanze mit kleinen, runden Blättern, die sanft im Wind zitterten.
Die Luft roch süßlich.

„Mellos lieben Meralum“, flüsterte Camy.

Als sie nähertraten, sahen sie es:
Ein Mello groß, zottelig, mit dunkelbraunem Fell saß tief unten in der Senke, umgeben von zerdrücktem Laub und heruntergerissenen Ranken. Es hatte versucht, an das Meralum heranzukommen… und war abgerutscht.

Die Kanten des Lochs waren zu steil, um allein wieder hinaufzukommen.
An den Felswänden sah man tiefe Kratzspuren, wo das Mello vergeblich versucht hatte, sich herauszuziehen. Es schnaubte kraftlos, wirkte ausgelaugt und verängstigt.

Nyx blieb am Rand zurück und legte sich lautlos in ein Gebüsch ruhig, aber mit gespitzten Ohren. Er wusste, dass seine Anwesenheit das Mello nur nervöser machen würde.

Camy und Kira gingen vorsichtig an die Kante, blickten hinunter.
Das Mello bemerkte sie sofort, schnaubte heftig und wich zurück bis es mit dem Rücken an der Felswand stand.

„Es hat Angst“, sagte Kira leise.
„Wir müssen vorsichtig sein.“

Sie schnappte sich ein paar der Meralum-Blätter am Rand, dann kletterte sie langsam hinunter. Mit jedem Schritt sprach sie leise, beschwichtigend.
„Hey… schon gut. Wir tun dir nichts. Wir wollen nur helfen.“

Das Mello beobachtete sie wachsam, schnaubte erneut, aber blieb stehen.

Kira hockte sich in die Mitte der Senke, ließ die Meralum-Blätter vor sich auf den Boden fallen. Aus ihrem Beutel holte sie eine kleine Schale und einen Wasserbehälter, den sie extra eingepackt hatte.
Sie goss ein wenig Wasser in die Schale und stellte sie behutsam auf den Boden.

Dann ging sie wieder zurück zur Wand, wo sie hinabgeklettert war, und setzte sich ruhig hin.

Camy beobachtete alles von oben bereit, aber ruhig.

Das Mello zögerte.
Dann bewegte es sich langsam, zögerlich, aber zielgerichtet zur Schale. Es trank, nahm vorsichtig ein paar der Blätter, dann blickte es wieder zu Kira.

Sie sprach weiter mit sanfter Stimme.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind hier.“

Camy sah sich um. Sein Blick fiel auf eine dicke Juma-Ranke, die sich von einem der Bäume herunterwand.
„Ich hab eine Idee!“, rief er leise nach unten.
„Ich glaub, wir können die Ranke nutzen.“

Er schnitt sie mit seinem Messer ab, trug sie zur Kante. Dann warf er das Ende zu Kira hinunter.

Kira hatte inzwischen das Vertrauen des Mellos weiter gewonnen. Es hatte sich hingelegt, wirkte ruhiger, aber erschöpft.

„Komm schon, Großer. Du willst doch hier raus, oder?“, sagte sie leise und lächelte.

Sie nahm das Ende der Ranke, band es vorsichtig um den Oberkörper des Mellos wie einen Gurt, der unter den Schultern hindurchführte. Dann kletterte sie wieder nach oben, wo Camy wartete.

Gemeinsam zogen sie.
Langsam. Gleichmäßig. Das Mello stemmte sich mit den Hinterläufen gegen den Boden, schnaubte kraftvoll,

trat nach, zog sich hoch. Es rutschte kurz ab dann wieder nach oben.

Einmal. Noch einmal.
Dann war es geschafft.

Das Mello stand oben.
Zitternd. Erschöpft. Aber frei.

Es ließ sich neben den Baum sinken. Kira eilte zu ihm, gab ihm mehr Wasser, streichelte seinen Hals.

Camy kniete sich daneben. „Jetzt bist du wieder frei.“

Das Mello schnaubte leise und leckte ihm mit seiner rauen, feuchten Zunge einmal quer über die Pfoten.

Kira lachte.
„Ich glaube, das war ein Dankeschön.“

Nyx kam langsam aus dem Gebüsch, hielt Abstand. Das Mello war zunächst misstrauisch, hob den Kopf aber Kira beruhigte es:

„Das ist Nyx. Ein Freund. Er tut dir nichts.“

Das Mello beobachtete ihn einen Moment, dann ließ es den Kopf wieder sinken.

Sie ruhten sich alle aus. Es war spät geworden das Licht wurde weicher, golden. Die Schatten lang.

Die Lichtung lag still, in jenem besonderen Licht, das nur kurz vor dem Abend durch die Baumkronen fiel golden und weich, wie flüssiger Honig. Die Schatten der Akimea-Bäume wurden immer länger.

Camy saß mit angezogenen Beinen im Moos und sah zum Horizont, wo die letzten Sonnenstrahlen durch das violette Blätterdach brachen.
Kira lag auf dem Rücken und sah in den Himmel. Das Mello hatte sich etwas abseits ins Gras gekuschelt, tief atmend, erschöpft, aber sicher.

Keiner sprach.
Es war einer dieser seltenen, vollkommenen Momente, in denen alles gesagt war, ohne dass ein Wort fiel.

Nach einer Weile richtete sich Camy langsam auf und blickte zu den beiden anderen.
„Wir sollten langsam zurückgehen“, murmelte er leise, fast ein wenig bedauernd.

Kira nickte. Doch als sie aufstand, fiel ihr Blick auf das Mello.
Es hatte die Augen geöffnet und sah sie aufmerksam an. Dann erhob es sich, streckte die Beine und trottete ohne Eile zu ihnen herüber.
Es blieb direkt neben Kira stehen so nah, dass sie seine Körperwärme spürte.

„Ich glaub… er will mitkommen“, sagte Camy leise.

Sie schauten beide das Tier an. Es erwiderte den Blick nicht wild, nicht scheu. Eher so, als hätte es eine Entscheidung getroffen.

„Du willst also bei uns bleiben?“ Kira ging in die Hocke und hielt ihm vorsichtig eine Pfote hin.
Das Mello schnaubte leise, senkte den Kopf als wäre es eine Antwort.
Dann schloss es für einen Moment die Augen, als würde es sagen: Hier ist es gut.

Camy lachte.
„Na gut. Aber wenn du zu uns gehörst, brauchst du auch einen Namen. Wie wär’s mit… Juno?“
Das Mello hob den Kopf und leckte Kira über die Pfoten.

„Juno gefällt ihm wohl“, grinste Kira.
„Oder ihr.“
„Stimmt… wir sollten das vielleicht noch herausfinden.“

Sie lachten.

„Ich bau dir eine kleine Hütte“, versprach Camy.
„Mit ganz viel Meralum drumherum.“

Juno brummte zufrieden und trabte an Camys Seite.

Und so zogen sie los Camy, Kira, Nyx… und Juno.
Ein Stück müder, aber reicher an Erfahrung als vorher. Mit neuen Erkenntnissen. Und einem neuen Freund.

Rückweg durch den Sagun-Wald

 

Der Weg zurück war länger. Nicht weil sie sich verliefen sondern weil sie ihn anders gehen mussten.
Die Gleiter lagen zurück am Rande der Schlucht, zu sperrig für den Aufstieg. Den selben Pfad konnten sie nicht nehmen. Nicht mit Juno.

Stattdessen suchten sie sich eine Route durch das Tal, entlang eines moosbedeckten Bachlaufs, der sich wie ein silbernes Band durch die Dämmerung schlängelte. 

„Wenn wir dem Wasser folgen, müssten wir nördlich auf den alten Sammelpfad stoßen“, meinte Camy und deutete auf eine schmale Spur, die zwischen Farnen und leuchtenden Pilzen entlangführte.

Sie bewegten sich langsam, vorsichtig auch weil der Tag ihnen in den Knochen steckte. Juno tapste brav hinterher, schnupperte neugierig an allem, was ihm fremd war. Manchmal blieb er kurz stehen, sah sich um, als wollte er sicherstellen, dass es kein Traum war.

Kira sprach leise mit ihm, flüsterte ihm gut zu und lobte ihn, wenn er ein kleines Hindernis meisterte. Camy beobachtete das mit einem sanften Lächeln.

Nyx sprang lautlos über Wurzeln und Stämme, immer etwas voraus, aber nie zu weit als würde er den Weg prüfen.

Unterwegs kamen sie an einer Gruppe flacher Felsplatten vorbei, auf denen sich hellgrünes Moos sammelte. Sie rasteten kurz, tranken vom kühlen Wasser, das sich in einer Mulde gesammelt hatte. Ein paar Zupps huschten zwischen den Wurzeln hindurch.

Es wurde dunkel, bevor sie das Dorf erreichten. Doch in Thariis war Dunkelheit nichts, wovor man sich fürchten musste. Die Pilze entlang des Weges leuchteten in sanftem Blau und Violett. Die Luft war mild, durchzogen vom Duft nach Laub, Erde und dem ersten Tau der Nacht.

Als sie den Wald durchschritten, öffnete sich vor ihnen die vertraute Lichtung. Die Häuser aus gewundenem Holz und Rinde, die Lichtkristalle in den Fenstern, das ferne Murmeln anderer Stimmen.

Juno blieb stehen, sah sich kurz um dann trabte er weiter.
Er hatte sich entschieden.

Heimkehr unter den Sternen

 

Als sie den Waldpfad entlang trotteten, war die Sonne längst hinter den Bäumen verschwunden. Nur ein letzter Schleier Licht hing noch zwischen den Ästen warm, weich und golden. Die Schatten wurden länger, das Licht silbriger.

Camy spürte, wie die Stille des Abends sich wie ein Tuch über die Welt legte.
Kira ging neben ihm, zufrieden, müde ihr Notizbuch fest unter dem Arm geklemmt.
Juno stapfte in gemächlichem Tempo hinterher, der große, zottelige Körper bewegte sich ruhig und gleichmäßig, als würde er längst wissen, wo er hingehört.
Nyx lief voraus, wie ein schwarzer Schatten, der mit den letzten Sonnenstrahlen verschmolz.

Es war still. Die meisten schliefen schon oder waren bei sich zu Hause.
Camy führte Juno zu einer Stelle neben seiner Hütte, wo er schon immer ein kleines Stück für sich reserviert hatte dort würde bald eine Hütte entstehen. Juno schnaubte zufrieden, legte sich ins weiche Moos und rollte sich zusammen.

Kira setzte sich neben Camy auf die niedrige Steinmauer vor der Hütte.
Sie sagten eine Weile nichts. Nur der Wind raschelte leise in den Blättern.

„Heute war schön“, murmelte sie.
Camy nickte.
„Und wichtig.“

Kira lächelte und sah zum schlafenden Mello.
„Wir haben einen neuen Freund gefunden.“

Beide blickten zu Juno, der ausgestreckt auf dem weichen Moos lag, tief und fest schlummernd, die Beine im Traum zuckend.

„Er hat jetzt einen sicheren Platz“, sagte Camy leise.
„Wir werden aufpassen, dass er in keine Löcher mehr fällt.“
Sie kicherten beide, leise, aber von Herzen wie zwei, die etwas Kostbares teilen.

Nyx sprang mit einem lautlosen Satz auf das Dach, rollte sich dort zusammen, die Augen halb geöffnet. Er sah den beiden noch einen Moment zu, bevor er sich zufrieden in den Schlaf sinken ließ unter einem Himmel voller leuchtender Sterne, die wie Kristalle über Thariis funkelten.

„Ich bin froh, dass wir losgezogen sind“, sagte Kira.

Camy lächelte.
„Ich auch.“

Sie saßen noch lange dort, in der Stille, während die Welt atmete.
Ein neuer Tag würde kommen – mit neuen Wundern, neuen Fragen, neuen Entdeckungen.
Doch für diesen Moment war alles genau richtig.